Ein "sichtbares und hörbares Buch der Zukunft" aus Werken der Stuttgarter Literaturszene und Region

Urs M. Fiechtner

Urs M. Fiechtner ist 1955 in Bonn geboren. Seit 1970 engagiert er sich bei Amnesty International in verschiedenen Funktionen. 1991 wurde er mit dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet.

▶ Langfassung als Bonusmaterial

Alles Normal

Hereingebracht zu werden in die Welt
auf sterilen, blütenreinen Laken
umgeben von professionellen Helfern
aus guten Schulen, Universitäten
Im Hintergrund die Phalanx gleißender
Apparaturen, die Blüten unserer Technologie
bereit, aus beinah' jeder Not zu helfen
Darunter ein solides Fundament aus Scheinen
durch manche dunkle Hand gegangen, aber
bereit, beinahe jede Schuld zu tilgen
Ringsum ein Schutzwall aus jahrtausendalten Steinen
sorgsam behauen, langsam, Stück um Stück
im alten Ringen zwischen Herrn und Untertan
bereit, beinahe jedem Schutz zu bieten
Darauf ein festes Dach, ein Flechtwerk
aus verwobenen Interessen, die auseinander streben
und sich doch gegenseitig stützen
bereit, beinahe jede Regenflut zu überstehen
Der Zaun endlich, hinter dem Horizont, geknüpft
aus sichtbaren und unsichtbaren Drähten, bereit
beinahe jeden Unbefugten abzuwehren -
Hereingebracht zu werden in die Welt
beschützt, umsorgt, vielleicht sogar mit Liebe
und alle Türen für die Zukunft offen, beinahe
Alles normal


Hinein zu fallen in die Welt
auf einem Bett aus Moderholz und Lumpen
umgeben von Geschwisteraugen, die
halb neugierig, halb furchtsam oder abgestumpft
den neuen Konkurrenten mustern
Im Hintergrund Familie, Nachbarn, Freunde
die sich aus Tradition betrinken werden
obwohl der Anlass keinen Grund zur Freude gibt
Darunter ein verdorbener Boden, von Sklavenfüßen
festgestampft, verloren, ausgelaugt von Alters her
Ringsum ein krankes Meer von anderen Hütten
beinahe uferlos, gebaut aus unfruchtbarem Lehm, aus Dreck
aus Krankheit, Hunger, Tod, geformt aus leeren Worten
aus Wahlversprechen und dem anderen Abfall
der am Wegesrand der Reichen liegen bleibt
Darauf ein schwaches Dach, wie aus Papier, auf das
ein schwerer Himmel drückt, die Sterne unsichtbar
hinter dem Glanz der fernen, unerreichbar goldenen Stadt
Der Zaun endlich, diesseits vom Horizont
von zielbewusster Hand mit Stacheldraht gekrönt, bereit
beinahe jedem seinen Platz zu weisen -
Hinein zu fallen in die Welt, versehentlich
und alle Türen in die Zukunft fest verrammelt
und alle Hoffnungslosigkeit schon ausgemacht, beinahe
Alles normal


Und langsam auf zwei Beinen laufen lernen
ringsum ein Wald von Händen, bereit
beinahe jedes Stolpern aufzufangen, oder
doch wenigstens ein Netz darunter, bereit
beinahe jeden Fall zu dämpfen
Eine beruhigte Kindheit, ein Orientierungsspiel
geplant wie im Gewächshaus
nicht immer schön vielleicht
doch immer sicher
immer mit doppeltem Boden und
immer genügend Brot auf dem Tisch
manchmal zu viel
Später die Schule, lästig vielleicht, aber ein Anfang
Vielleicht nicht gebaut, um das Leben
zu verstehen sondern um in ihm zu funktionieren
aber dennoch ein Anfang
die Welt zu begreifen und sich in der Welt
zu behaupten, Lesen und Schreiben zu lernen und
damit die Kunst, zu verstehen und Verständnis zu wecken
Oder Wissen zu sammeln, das gelegentlich Macht ist
aber noch öfter der Weg, das Überleben zu sichern
unblutig, womöglich mit Anstand, mit Würde, meistens
erfolgreich. Nicht mehr als ein Angebot, aber immerhin das
und längst wie selbstverständlich -
Alles normal


Und möglichst bald auf eigenen Füßen stehen
so schnell es geht, weil jede Hand gebraucht wird, um
im Müll der großen Stadt nach Essbarem zu wühlen
und jeder Hunger neue Hände will, um ihn
zu stillen. Im Hintergrund ein Abwarten
weil ohnehin nicht allen Zeit
zum Aufwachsen gegeben ist
und keine Liebe daran etwas ändern kann
außer die eigene Kraft zu schwächen
und jedes neue Leben seinen Wert erwerben muss
indem es anderem Leben nützlich wird
Kein Spiel. Nur einfach Ernst.
Unter den Füßen nichts als hundert Möglichkeiten
ins Bodenlose abzugleiten
Im Rücken nichts als eine Wand
aus Angst und Aussichtslosigkeit
Vor Augen nichts als ungezählte Bunker
rings um das schwer bewachte Beutegut der Reichen
Und niemals genügend Brot auf dem Tisch -
Alles normal


Leben und Sterben als eine Frage von Spielregeln
begreifen, mit Plastikgewehren hantieren und danach
mit den Toten friedlich ein Eis essen gehen
In Scheinwelten durch endlose Labyrinthe hasten
virtuellen Fährnissen mit schnellen Fingern trotzen
und das Überleben als Punktestand notieren
Später mit Messer, Schlagring oder Hakenkreuz
ein wenig Größe in das öde Bild des Spiegels bringen
(als sei Gewalt nicht eben, was uns niedrig macht)
Davon träumen, den einfachen Weg gehen und
alle Hürden brechen zu können, nicht
mit der subtilen Fingerspitze der Vernunft, sondern
unter der alten Dumpfheit einer Faust und
einem Farbenwald von infantilen Feuerspielen
Dem Druck des Reichtums wie ein Tölpel zu erliegen
und glauben, wir hätten so viel Zeit im Überfluss
dass sie zum Totschlag freigegeben sei
Die beinah festgefügte Welt als Fessel zu begreifen
und nicht als Auftrag, sie zum Besseren zu wenden
Sich jede Dummheit zu erlauben, unbewusst
vertrauend, dass alles nur ein Spiel sei
und unter uns der Boden sicher
Davon träumen, auch ohne den Kopf
gut dastehen zu können -
Alles normal


Leben und Sterben als eine Frage der Macht begreifen
die angeblich noch immer aus Gewehrläufen kommt
Der Welt erliegen, die nie Spiel ist, wenn es
um großes Geld geht oder Brot
Den Uniformen folgen, nicht aus Neigung
sondern, den Rücken an der Wand, aus Mangel
an Alternativen. Nichts anderes träumen
als die Ohnmacht umzudrehen, die Not
zu brechen, irgendwie, und wenn es Leben kostet
(meistens das eigene), aber nie wieder
wehrlos zu sein, nie wieder gefangen hinter Mauern
die fremde Hände bauten, nie wieder
fremd zu sein, verstoßen in der eigenen Welt
nie wieder ausgeliefert dem Hunger, der nicht
eigenes Verschulden ist, sondern ein Verbrechen
begangen von Anderen

Sich neue, maßlos alte Regeln zu erfinden
weil alles Recht nur für die Auserwählten gilt
die es zerbrechen wie ein dummes Kind sein Spiel
und danach lauthals jammern, weil es gebrochen ist
Mit den Vernunftlosen in ihrer Sprache sprechen
und eine Waffe in die Hände nehmen
Verzweifelt davon träumen, auch ohne den Kopf
anständig überleben zu können -
Alles normal


Hineingeführt zu werden in die Welt
in der das Töten aus der Ferne
kunstvolles Spiel geworden ist
und der Respekt vor anderem Leben
wie Ballast abgeworfen wird
Als ob nicht wir am besten wüssten
dass alles Recht
zuerst das Recht der Anderen ist

Hinein zu fallen in die Welt
in der das Töten wie ein Fluch
sich selbst in seinen Kreislauf zwingt
und der Respekt vor anderem Leben sich verlor
weil auch das eigene nie Respekt erfuhr
Wo nicht die Starken überleben werden
sondern die Rücksichtslosen
wozu auch immer

Hinein gelockt zu werden in die Welt
in der Gewalt so selbstverständlich ist
wie Schlaf. - Wie jener Schlaf
von dem wir doch schon immer wussten
dass er nach unserem Bilde
Ungeheuer schafft
und dem wir dennoch gerne folgen
weil uns Gewalt und Gier bequemer sind als die Vernunft

Alles normal.

Missbraucht zu werden von der Welt
in der uns vorgeschrieben wird
wie wir zu leben und zu sterben haben
oder zu töten
in ihren kleinen oder großen Kriegen
den schleichenden und den erklärten
den unbewussten und den kühl geplanten

Alles normal.

Missbraucht zu werden von der Welt
in die wir ungefragt
als Mitspieler gekommen sind
mit nichts versehen als dem Instinkt
zu überleben und jener Forderung
uns anzupassen. Weil alle sagen
dass nur der Angepasste überlebt.

Alles normal.

Alles normal -
Bis wir uns endlich
auf uns selbst besinnen
und auf das Recht, nicht alles hinzunehmen
was uns, wozu auch immer, vorgegeben ist

Nicht jeder Dummheit nachzuirren
die man uns vorsetzt wie ein Gotteswort
Nicht jeder ausgefahrenen Spur zu folgen

Mit jedem neuen Leben
die Welt neu zu beginnen:

Das!
Das ist normal.



Urs M. Fiechtner, Alles Normal, entnommen mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor aus: Fiechtner/Vesely, Notizen vor Tagensanbruch - Politische Gedicht,. Edition Kettenbruch, Stuttgart/Ulm 2015.


Die Haltlosen. Die Hilflosen

I.

Ich verstehe sie nicht.
Sie leben. Ziellos. In ihren Köpfen
nur die Bilder ihrer selbst.
Ich verstehe sie nicht.
Bedenkenlose Silhouetten.
Kollektive Klänge ohne Ton.
Keine Entscheidung.
Keine Auflehnung.
Keine Veränderung.

Nur diese Unzahl von Rechtfertigungen.
Das endlose Gerede.
Das Rauschen ihrer Gesänge.
Die kleine Gier und sehr viel Lärm
um sie zu stillen.
Ich begreife die Haltlosen nicht.


II.

Ich verstehe die Hilflosen nicht.
Die schwitzenden Nachtwanderer
der Spaßbehörden, die uniformen Thekenprahler
mit ihren unerbittlich unerheblichen Geschichten
von tausendundeiner Tat. Verzweifelt
versuchen sie dem Auditorium einen Rest
von Achtung einzuflößen für ihre
dummdreisten Gesten. Mit torkelnden Tentakeln
schnappen sie nach jedem Krümel
für den Erhalt der Eitelkeit.
In flatternden Dessous vegetieren sie hustend dahin.

Ich bemitleide die Hilflosen nicht.
Es gibt keine Welt, die für sie zu verändern sich lohnte. Keine Zukunft,
die um ihretwillen zu erkämpfen sei. Sie sind
laut, doch ihrer Stimmen beraubt. Ihre Geilheit
ist schal, und doch zuweilen fast stärker als
die Liebe selbst. Sie sind Opfer wie wir
und kopulieren willig mit den Tätern herum.
Sie atmen den Duft von Erbrochenem. Ausschließlich ihren Spiegeln gilt
ihre Zuneigung. Ihr Horizont ist enger noch
als die gekachelten Mauern einer Bedürfnisanstalt.

Fügsam tanzen sie fort.

Es ist zum Verzweifeln - die Barbaren
unserer Zeit tragen weder Rüstung noch Horn
sondern die irisierenden Gewänder, spärlich,
unserer verrutschten Utopien.


III.

Ich verstehe die Haltlosen nicht. Während
alles in Scherben fällt und die Gesichter
sich an Mikrophonen verwunden und
die alten Kartenhäuser verrauchen wie
brennende Bäume und die neuen Kriege
heranschleichen wie böswillige Insekten
und die kühle Gier wieder Einzug hält im Land
und die Großen wieder sich anschicken
die Kleinen zu fressen und der Horizont
immer größer wird und doch alles
näher rückt, was wir besiegt schon glaubten -

Während die Sorge der Nachdenklichen

Schaumblasen wirft um die Lippen der Welt
schmieden die Zielstrebigen
verstohlen an weiteren Gittern und
taufen mit schwerzungigen Wörtern
die künftigen Elemente der Niedertracht.

Unter dem Tanzboden
bastelt man blökend
an der Vernichtung der Welt.

Es gibt keinen anderen Ausdruck dafür:
Die Mächtigen spinnen.
Die Aktentaschenträger
sind durchgedreht, mit erigiertem Bürzel
tauchen sie in maßlose Meere
des Elends, Parlamentsreden haltend
Zahnstreifen freundlich entblößend
zutiefst verblödet
an jeder Faser ihrer Domestikenkörper
behaftet mit dem verseuchten Grinsen
der provinziellen Börsenmakler.

Es gibt keine andere Erklärung dafür:
Die pragmatisch Verwirrten
betanzen den Blocksberg
verkleidet, von unerklärlichen Drogen berauscht, mit
hüpfenden Krawatten und Schwänzen
dick, naßforsch, verlogen
und von Leibwächtern umgeben.

Die Haltlosen, währenddessen
der Vernichtung anheim gegeben
belanglose Ziffern auf
dem Parkett der Schweinepriester
übersehen unbeweglich die Nachrichten.

Unbeirrbar in ihrer Stumpfheit
ist ihnen der Widerstand riskanter
als der Tod.



IV.

Auch Euch verstehe ich nicht
hach, Euch hilflos Hauchende
Euch rehäugige Ringelschwänzchen
am blanken Arsch der Reaktion -
liebwürdig lispelnd webt Ihr
an den zarten Schleiern der Übereinkunft
strickt eilfertig klappernd am Mantel der Kompromisse
und beugt Euch immer tiefer, bis endlich
in der unendlichen Ödnis der Sanftmut
die Freiheit erlischt, während Ihr
wimpernflatternd das Unrecht beseufzend
jedwede Gemeinheit schlürft
mit zart emporgeschürzten Lippen.

Ihr Guten!
Ach, wärt Ihr doch weniger gut
und statt dessen begabter für den aufrechten Gang!

Ihr zartrosa Gesottenen im breiten Brei des Geredes
Ihr zahnlosen Meerschweinchen im Hofstaat der großen Betrüger
Ihr Bewegten
aber nichts Bewegenden, Ihr
ob eines unguten Wortes stetig Betrübten, Ihr
betroffenen Marzipanküken, Ihr
freudig Dahinsiechenden unter der wärmenden Sonne der Begriffslosigkeit
Ihr untätigen Larmoyanzen -

Ach, wären doch Eure schmiegsamen Gedanken weniger lockig
und wär' Euer Antlitz doch weniger glatt.
Ach, wärt Ihr doch wieder Ihr selbst
und nicht der Gewandsaum Eurer Propheten.


V.

Ich verstehe die Haltlosen nicht.
Ich verstehe die Hilflosen nicht.
Ich verstehe Euch nicht.

Ach, würdet Ihr doch begreifen
dass Ihr Komplizen seid,
und wenn auch betrogen,
so doch verantwortlich für Euer Tun.




Urs M. Fiechtner, Die Haltlosen. Die Hilflosen, entnommen mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor aus: Fiechtner/Vesely, Notizen vor Tagensanbruch - Politische Gedichte, Edition Kettenbruch, Stuttgart/Ulm 2015.