Ein "sichtbares und hörbares Buch der Zukunft" aus Werken der Stuttgarter Literaturszene und Region

Zsuzsanna Gahse

Zsuzsanna Gahse, österreichisch-deutsch-schweizerische Schriftstellerin, geb. 1946 in Budapest, lebt in Müllheim (Schweiz). 1990 Stuttgarter Literaturpreis, 2019 erhielt sie den Grand Prix Literatur des Schweizer Kulturamtes.

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SIEBZEHNTER DONAUWÜRFEL

1.
Winterdonau, dumpf zusammengepresst,
Eisplatten schieben sich voran, und die
Neuigkeit sind gestanzte Eiswürfel;
die leichten Gebilde schwimmen klirrend
an der Oberfläche, so gesehen
bei Ulm. Zahllose gleich große Würfel,
je fünfzig Zentimeter breit an den
Kanten, täglich von den Kraftwerken in
den Fluss befördert. Die Leute lieben
die Eisklunker und hocken bis in die

2.
Dunkelheit an den Ufern, während die
Würfel erst funkeln und dann zu tauen
beginnen. Man hockt am Ufer, eine
winterliche Selbstbeschwichtigung ist
das. Aber im Frühling ist die Ruhe
wieder verloren, loosing control, sagt
man, während das Wasser geschwind steigt, dann
stürzen braune Flutwellen voran, so
schnell kann niemand schauen wie sie stürzen,
eine Welle über die andere.

3.
In Ulm ist die Donau noch schmal, aber
trotzdem schon die Donau, vor allem ragt
im engen Becken das Wasser weit bis
zum Rand, zum Mund hinauf, das Becken hat
einen Mund mit vorgewölbten Lippen,
damit ja kein Tropfen verloren geht,
die Situation ist seltsam, am
besten mit einem Kussmund umschrieben,
einem gespitzten Kussmund, das Wasser
reicht bis zum Rand, fließt schräg, Ulm ist schräg, vom


4.
Zug aus gesehen ist auch der Dom schief.
Und der Ulmer Mund hat sogar vom Laut
her eine Bedeutung, da nichts besser
zur Donau passt als das klare U, was
an ihrem Unterlauf liegen könnte
oder an den Unterströmungen, an
dem uralten Verlauf im Altmühltal
oder an den Hunnen, die die Donau
entlang laut in Richtung Westen tobten.
Hunderte, Tausende Hunnen, hinzu

5.
kamen die Hunde, die ihnen folgten.
Diese Hunnen waren durchweg dunkel
geschult; sie meinten, die Zukunft an den
Schultern, den Schulterblättern ablesen
zu können, und immerhin sagt man in
Ungarn, obwohl man mit den Hunnen nicht
viel zu tun haben will, heute noch hun,
was in ländlichen Gebieten wo und
wohin bedeutet. Hun sind die Liebsten
hingekommen, fragt man sich, hun sind sie,

6.
das frage ich mich auch und kenne kaum
ein noch wichtigeres Wort als das Wo.
Möglich ist aber, dass die Donau ein
U-förmiges Becken hat, zumindest
an vielen Abschnitten, woraus dann folgt,
dass der Fluss ein U-Gefühl annimmt, dass
ihr ein Gefühl für das U anhaftet,
kein wirkliches Gefühl, natürlich nicht,
aber das sag ich so, um einfacher
von der U-Haft zu reden, in der sie

7.
steckt. In einer heiklen Beugehaft. Die
Frau, die mir im Zug gegenüber sitzt,
runzelt die Stirn, ärgert sich über mich
und will daher ernst bleiben. Sehen Sie
die finstere Nacht da draußen, rufe
ich, dabei scheint die Sonne, die späte
Wintersonne. Sie schaut wortlos hinaus,
sie, die anfangs unbedingt auf eine
Unterhaltung aus war. Ich würde ja
gerne täglich im Zug sitzen und vom

8.
Fenster aus die Donau betrachten, nur
spricht bei langen gemeinsamen Fahrten
sicher jemand los, wildfremde Menschen
mit einer wilden Leidenschaft für die
Mitreisenden sagen, was sie meinen,
erst sprechen sie über den Tod, dann auch
über den Teufel, und dem entwinde
ich mich, indem ich beispielsweise von
der Beugehaft der Donau erzähle,
und da sage ich sicher nichts Falsches.

9.
In wiefern kann die Donau frei sein, wenn
sie immer nur still reagieren darf.
Die Frau mir gegenüber schaut mir in
die Augen. In Ulm steigen wir beide
aus, nachher sehe ich sie auf meinen
nächsten Zug zueilen, sie setzt sich zu
mir, Seite an Seite fahren wir nach
Lindau, von Ulm zum Bodensee. Draußen
der Schnee, links und rechts der Gleise tauchen
Seen, Teiche, Tümpel, Weiher auf, das

10.
Land liegt auf einem großen Wassergrund,
der zu einem Meer aufbrechen könnte.
Einzelne verschneite Felder sehen
bei den diesigen Lichtverhältnissen
wie weiße Schillerseen aus. Eine
Seenplatte ist die Gegend von Ulm,
triefend nass, rundum das Wasser, und in
den Regionalzügen nach Lindau
fahren keine Schaffner mit, so dass am
Zielort jeder allein ankommen muss.


aus: Zsuzsanna Gahse, Donauwürfel, Edition Korrespondenzen, Wien 2010.


NEUNZEHNTER DONAUWÜRFEL

1.
An der Donauquelle, an der fern, fern
von der Mündung gelegenen Quelle,
nahe dem Nervenende der Donau,
an einem von ihren endlos vielen
Nervenenden, da sitze ich in der
Mittagshitze. Neben mir sickert das
Wasser aus der Erde, rinnt zwischen den
Steinen stockend los, fließt, tropft, hier beginnt,
was eine Donau werden will, und die
rechtmäßige Himmelsrichtung kennt das

2.
Wasser auch schon. Etwas weiter unten
im flachen Land hat es sogar eine
Flachlandhaltung eingenommen, die passt
gut zu ihm, das kleine Ding kurvt ernst und
mit einer Selbstverständlichkeit durch die
Gegend von Donaueschingen auf ein
erstes Gebirge zu und verkriecht sich,
versteckt sich in den Höhlungen, dann folgt
ein kurzes Verwirrspiel im Gestein, bis
die Donau wieder vorbricht. Die Bergangst

3.
muss sie im späteren Verlauf mehrmals
blind überwinden, ansonsten ist ihr
Verlauf meist unspektakulär, flach fließt
die Donau, versonnen, scheinbar heiter,
man könnte auch sagen ernst, nicht grimmig,
aber ernst, so würde ich sie nennen,
der Vorname Ernst und der Nachname
Versonnen, gleich von der Quelle an, von
beiden Quellen an, von der Brigach und
der Breg oder einfach von Brig und Breg,

4.
also liegt ein feines Nervenende
der Donau im Schwarzwald, ein zweites gleich
in der Nähe, beide sind mit restlos
allen übrigen Enden verbunden,
daher spricht man von einem Flusssystem,
das ebenso auch ein Nervensystem
genannt werden kann, so dass man nervig
bis zur Lechquelle weiterkommt, bis hoch
in die Alpen hinauf, dann mit dem Lech
über alle Klippen mitsamt Geröll


5.
und Kies ins Flachland hinab zum Lechfeld,
das ist ein weites Feld, wo sich der Lech
zwangsläufig verlangsamt und mehr und mehr
Sand vor sich herschiebt, der in die Donau
gelangt (und auf der unteren Strecke
ist der Lech ein recht dicker Nervenstrang).
Im Quellgebiet ist er allerdings schnell,
und jung ist er, blauweiß, hell türkisweiß
durch all das mitgeschleppte Eis, und das
Tempo, das er dort oben vorlegt, ist

6.
ein Abenteuer. Am Lechberg wird er
von Wanderern begleitet, der Lech und
die Wanderer, der Lech und die alten
Wanderer; die ruhen sich zwischendurch
aus, mittags dösen sie, und der Lech springt
weiter durch die kalkigen Berge, bis
zur Mündung liegen noch fünfzehnhundert
Meter Gefälle vor ihm. Der Inn hat
seinerseits mehr als zwei Kilometer
an Fallhöhe hinter sich, wenn er in

7.
Passau mit seiner berühmten Eile
eintrifft. Das sind die Geschichten zwischen
Quelle und Mündung (wobei die Quellen
mancher Flüsse nicht eindeutig genannt
werden können). Der Lech entspringt in den
Kalkalpen, in den Muschelbergen, den
Fischknochenbergen, eisig und milchig
weiß stürzt er, schielt, springt schnell in die Tiefe,
um in den Niederungen schließlich an
dem eigenen Sand schier zu ersticken.

8.
Die Quellen liegen in den Hängen der
Alpen, in den nördlichen Hängen, in
den jungen und daher hohen Alpen,
die sich auf Satellitenbildern wie
Raupen ausnehmen, und diese Raupen
pieseln, deutlich glitzert das Wasser, das
aus ihnen hervorquillt. Bei weniger
hohen Luftaufnahmen sind einzelne
wuchtige Gebirgsstöcke erkennbar
und das dazugehörige Wasser.

9.
Bei noch näheren Aufnahmen ist auch
das Tempo der Bäche zu sehen, sie
liefern schnelle Nachrichten über nichts,
könnte man sagen, Nachrichten über
Niederschlagsmengen, Temperaturen,
über die Abtragung von Kalkschichten;
das sind schließlich keine beiläufigen
Berichte, und an zehntausend Quellen
schießen solche Informationen
los, an den Nervenenden, sage ich,

10.
während ich nun am Zusammenfluss der
Breg und der Brigach stehe, dort unter
den Birken, wo nur wenige Schritte
entfernt die Donau zum ersten Mal so
genannt wird, bei Donaueschingen, zu
sechst beobachten wir das Ereignis,
neben mir mein Vater, die anderen
kennen wir nicht, aber sie nicken uns
zu. Endlich am Anfang der Donau, sagt
mein Vater, und die anderen nicken.


aus: Zsuzsanna Gahse, Donauwürfel, Edition Korrespondenzen, Wien 2010.